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»Wirklich sehr berührend, Paps«, sagte Junior und trat von einer Vorderpfote auf die andere. Es war ihm anzusehen, daß ihn die Story in ihren Sog gezogen hatte. Der rote Glutschein aus dem Kamin hatte aus ihm inzwischen einen leuchtenden Feuerball gemacht. Sein schwarzweißes Fell hatte sich aufgeplustert, als sei es statisch aufgeladen. »Aber auch ein typischer Cliffhanger. Denn wenn mich kein Geist gezeugt hat, bist du nach dem Sprung in den Brunnen nicht gestorben.«

»Genial kombiniert«, erwiderte ich. Die schlummernde Sancta an meiner Seite stieß den süßesten Seufzer an diesem Abend hervor. Dämmerige Lichtwellen wanderten über die dunklen Wände des Zimmers. Mit einem Seitenblick durch die Fenster sah ich, daß es draußen nun richtig zu schneien angefangen hatte. Flocken von der Größe von Ein-Euro-Münzen huschten an den Scheiben vorüber.

»Laß mich raten: Als du in das Brunnenwasser geplumpst bist, hat die Todesangst dich plötzlich doch in einen Meisterschwimmer verwandelt.«

»Falsch!«

»Du konntest dich im letzten Moment an einem Ast oder Gestrüpp oder sonst etwas festkrallen, das aus der Seitenwand der Röhre herausgewachsen war.«

»Wieder falsch!«

Die schrägen grünen Diamantenaugen weiteten sich. Er legte sich flach, nahm die Sphinx-Pose ein und fixierte mich mit forderndem Blick.

»Okay«, sagte er, und sein junges Gesicht hatte mit einem Mal etwas von dem eines Hypnotiseurs, der einem mit der Taschenuhr vor der Nase herumwedelte. »Du fielst und fielst also den Brunnenschacht herunter ...«

 

... ich fiel und fiel den Brunnenschacht hinunter, und lebensmüde oder auch todesmutig wie ich war, riskierte ich dabei einen Blick abwärts, um meinem Exitus ins Angesicht zu schauen. Doch weder plätscherndes Naß noch ein finsterer Orkus kam mir in rasender Geschwindigkeit entgegen, sondern seltsamerweise so etwas wie fahles Feuer. In dem immer größer werdenden, runden Ausschnitt unter meinen Pfoten sah ich einen schwankenden orangefarbenen Schein. Er flackerte über einem Gebilde, das dem Gipfel eines Berges im Kleinformat ähnelte. Ich hatte damals keine Ahnung von Hölle, Fegefeuer oder ähnlichen unirdischen Foltern, doch spürte ich, daß das Ziel der Reise etwas Grausames außerhalb meines Erfahrungsbereiches für mich bereithielt. Zudem vernahm ich allmählich einen im unheimlichen, aber auch launigen Ton vorgetragenen Singsang, der sich wie ein aus vielen Kehlen entsteigender Chor anhörte. Mein Ende schien unabwendbar.

Doch weder zerschellte ich irgendwo noch landete ich im Höllenfeuer. Im Gegenteil, wider Erwarten landete ich sehr bequem, und es flog mir so allerhand über den Kopf. Vertrocknete Pflanzenblätter, die über Jahre hinweg kontinuierlich in das längst ausgetrocknete Brunnenbecken hereingeflogen waren, hatten sich an dessen Grund zu einem Haufen aufgetürmt. Unzählige weiße Kerzen brannten um den Haufen, weshalb er von oben so rötlich warm beschienen gewirkt hatte. Die Kerzen drückten dem eigentümlichen Ort optisch ihren Stempel auf. Das zerlaufene Wachs überzog jeden Winkel gleich einer Schneeschicht, darüber hinaus verlieh es dem beckenartigen Gewölbe, das praktisch wie eine überdimensionale Luftblase unter der Erde geformt war, etwas von einer Tropfsteinhöhle. Soweit das Auge reichte, hatten sich Generationen von abgebrannten Kerzen zu Stalagmitensäulen vereint, waren beim Zerfließen zu Wirbeln und Strudeln gefroren, zu Standbildern von Brandungen geworden. Aus diesem höckerigen, krummnäsigen und sich besinnungslos überklumpenden Wachs-Interieur ragten kleine Stapel zerfledderter, alter Bücher empor wie pittoreske Burgen inmitten einer Winterlandschaft. Auch auf dem Boden lagen viele, meist mit Ledereinbänden versehene und von Ratten zernagte Bücher. Irgendwo hinten schien ein Gang ins Nirgendwo zu führen.

Ich war ehrlich überrascht. Aber das ist man ja oft in diesem Alter.

»He, Dude, mach ma noch 'n paar von den abgefuckten Stangen an«, sagte ein hoffnungslos verwuselter, verfilzter Kerl, der sich über mich beugte und in seiner konfusen, schmutzigen Erscheinung seine wenigen Siam-Gene nur erahnen ließ. »Hab das komische Gefühl, daß schon wieder ein neuer Dude zu uns gestoßen ist. Will ihn mir mal näher angucken.«

»Geht klar, Dude, mach alles, was du sagst, Dude, schmeiß sofort noch 'n paar mehr Kohlen in den Ofen«, hörte ich eine krächzende Stimme aus dem Hintergrund. »Fragt sich nur, ob der Saftladen uns nicht bald um die Ohren fliegt, wenn immer mehr Dudes zu uns runterfallen.«

Der Artgenosse über mir, der mit seinen türkisblauen Glubschern direkt in die meinigen glotzte, zog eine leicht verärgerte Miene. Wenn mich nicht alles täuschte, baumelten von seinen rechten Schnurrhaaren Spinnweben herunter, an den linken krochen irgendwelche Insekten herum. An seinem struppigen graubeigen Fell hätte sich selbst der lockerste Kamm die Zähne ausgebissen. Kurz, mein Entdecker sah so aus, als sei er soeben einer Mülltonne entstiegen, wenn diese verwahrloste Unterwelt nicht eh schon an sich eine Mülltonne in King-Size-Format war.

»Vom Himmel hoch, da kommst du her, muß dir sagen, durch dich haben wir 'n Maul zu stopfen mehr«, sagte der Wuseltroll, stöhnte und ließ eine Stinkwolke der Extraklasse zu mir herüberwehen.

»Ich muß den kompletten Marcel Proust lesen«, stammelte ich. Ich stand noch völlig unter Schock. »Außerdem sind eben meine Mutter und alle meine Geschwister getötet worden.«

»Das mit deiner Familie tut mir echt leid, Dude. Aber wie Buddha schon sagt: Bist du erst mal tot, kannst du dich wieder auf die wesentlichen Dinge im Leben konzentrieren. Der olle Proust ist übrigens nicht schlecht, aber ich finde, der Typ wird total überschätzt. Versuchs mal mit Charles Bukowski. Der Dude zieht einem echt die Schuhe aus. Doch in deinem erbärmlichen Zustand und dem Kratzer am Schädel solltest du erst mal das hier probieren. Hilft auch beim Abschütteln der bad vibrations.«

Damit steckte er den Kopf blitzschnell nach unten und kam mit einem Blumenstrauß zwischen den Zähnen wieder hoch. Aber nein, es war gar kein Blumenstrauß, sondern ein Strauß ohne Blumen. Doch auch das stimmte beim näheren Hinsehen nicht. Eigentlich handelte es sich um ein paar Stengel mit ein paar Blättern und blauen Blüten dran.

»Jesus, ist das ein geiler Stoff!« frohlockte der Wuseltroll und ließ die Pflanze vor meine Nase fallen. Verdutzt und irgendwie auch handlungsunfähig schaute ich ganz kurz an dem komischen Vogel vorbei. Und staunte nicht schlecht. Etwa zwanzig »Dudes« lümmelten sich auf Höckern und in Tälern aus weißem Wachs, angestrahlt vom Licht der vielen brennenden Kerzen. Sie alle ähnelten meinem Gegenüber. Das Wort Rassenmix umschrieb nur annähernd ihre Abstammung. Es war so, als hätte man sämtliche Rassemerkmale meiner Gattung in einen Topf hineingeworfen, kräftig umgerührt und dann mit jeder Kelle, die auf dem Teller landete, eine völlig neue Kreation geformt. Es gab die kuriosesten Mischungen: dicke Scottish-Fold-Brüder mit den typischen, wie eine Kappe auf ihrem Kopf sitzenden Faltohren und dem mißmutigen Gesichtsausdruck, die jedoch ein braun-grünlich gesprenkeltes Schildpatt-Fell und einen langen dünnen Schwanz besaßen. Schwanzlose Manx-Damen mit dem Körperbau einer Orientalisch Kurzhaar, langgezogen wie ein Gummiband und glänzend wie Samt. Mein Gott, wer hatte bloß diese unmöglichen Kreaturen erschaffen?

In einem Punkt glichen sie einander jedoch allesamt. Wie der Bruder vor mir hatten sie sich den Look der Verwahrlosung zugelegt. Offenbar machten sie sich wenig Mühe, sich zu lecken und zu reinigen. Sie hatten verzwirbeltes, gar verklebtes Fellhaar, und aus den leicht entrückten Gesichtern wuchsen bisweilen verquaste Büschel, was sich wohl auf fehlende Pflege durch Pfotenwischen zurückführen ließ. Von ihrem, diplomatisch ausgedrückt, eigenwilligen und allgegenwärtigen Odeur ganz zu schweigen.

Doch die Merkwürdigkeiten nahmen kein Ende. Einige der Dudes waren über aufgeschlagene Bücher gebeugt, und wie es aussah, lasen sie auch darin. Ich hatte vorher schon ab und an Menschen beobachtet, die diesem wundersamen Zeitvertreib frönten. Dabei hatten sie immer in sich gekehrt gewirkt, gerade so, als versetze der während des Lesevorgangs ablaufende, aufregende Film in ihrem Kopf sie paradoxerweise in eine Art Lähmung. Nicht so bei meinen neuen Freunden. Einige von ihnen zogen dabei Grimassen wie ein Clown oder starrten zwischendurch mit leerem Blick in die Ferne, andere rollten sich mit ausgestreckten Pfoten, als ob sie durch die Lektüre Anweisungen zur Gymnastik erhielten, wieder andere vollführten gar Luftsprünge und grapschten nach imaginären Faltern. Und während der ganzen Zeit stießen sie ohne Pause ein kehliges Miauen aus, das sich wie ein schräger Mönchsgesang anhörte. Das war der Singsang, den ich während des Sturzes in den Brunnen vernommen hatte.

Des Rätsels Lösung für das bizarre Leseverhalten war offensichtlich. Ich wurde selbst peu â peu von diesem Verhalten infiziert, obwohl ich gar nicht lesen konnte. Vor einem jeden dieser schrulligen Artgenossen lag nämlich nicht nur ein aufgeschlagenes Buch, sondern das gleiche Gewächs wie vor meiner Nase. Alle Dudes snifften, flehmten und bissen hin und wieder an ihrem eigenen Exemplar herum. Später erfuhr ich, daß es sich dabei um die berühmt-berüchtigte Minze handelte, die meinesgleichen in Ekstase versetzt. Kurzum, ich hatte es hier mit einer Sippe eingefleischter Drogenfreaks zu tun, wenn auch anscheinend intellektueller Natur.

Zu dieser Erkenntnis war ich aber damals nicht fähig. Kein Wunder also, daß ich durch das aufsteigende Aroma der Pflanze, das mich noch dazu animierte, daran zu lecken, selbst innerhalb Sekunden dem Rausch verfallen war. Leichten Herzens, muß ich gestehen, denn der tiefe Schmerz meiner erst wenige Minuten zurückliegenden, blutigen Vergangenheit ließ mich immer noch am ganzen Körper zittern und verlangte nach Linderung. Ich erinnere mich dunkel, wie ich noch diesen Kerzen-Heini im Hintergrund wahrnahm. Der greisenhafte rote Zausel mit den stechend kupferfarbenen Augen rannte wie ein Verrückter in dem Becken herum.

»Mehr Licht!« schrie er in den Gesang der anderen hinein. »Mehr Licht! Mehr Licht!« Zwischendurch machte er immer wieder halt, und ich bemerkte, daß dies stets an einer Stelle erfolgte, wo sich ein Stoß frischer Kerzen befand. Der Zausel hatte eine interessante Methode entwickelt, die Dinger anzustecken. Er schnappte sich eine Stange, indem er hineinbiß, und hielt den jungfräulichen Docht über die Flamme einer schon brennenden Kerze, bis dieser Feuer fing. Sodann ließ er von dem zerfließenden Wachs etwas heruntertropfen und machte darauf die Kerze fest. Wieso er das andauernd tat, blieb allerdings ein Rätsel. Vermutlich hatte er längst den Verstand verloren.

Mir war es einerlei, löste sich doch alles vor meinem realen wie auch meinem geistigen Auge in Licht auf. Der vielfache Kerzenschein nahm binnen Sekunden an Intensität zu und verschluckte so das eh schon unwirkliche Szenario. Die verwuselten Artgenossen, die in ihren Büchern studierten, absonderliche Verrenkungen vollführten oder einfach vor sich hindelirierten, begannen an ihren Konturen abzubrennen und sich selbst in Lichtwesen zu verwandeln. Der dämmerige Ort war auf einmal wie von megawattstarken Scheinwerfern angestrahlt. Und bevor ich in ein allgegenwärtiges Gleißen hinabglitt, sah ich noch das verzottelte Gesicht des Entfernt-Siamesen über mir. Er lächelte mich in einer Mischung aus Siehste-wohl-Güte und aufrichtiger Sorge an. Allerdings sah ich auch ein Blättchen der guten Minze an seiner Nase kleben. Der Kerl war selber total bekifft.

»Gute Reise, Dude«, sagte er. »Mach dir nicht allzu viele Sorgen.« Dann wurde er selbst ein Teil des Lichts.

Ich tauchte ein in die gleißende Helligkeit. Und dort begegneten sie mir alle wieder. Meine liebe, schöne Mutter nahm gerade von einem illuminierten, weiß beschürzten Fleischereiangestellten ein saftiges Steak von mindestens fünf Zentimeter Dicke in Empfang. Vermutlich war es derjenige Mensch, der ihr im wirklichen Leben das Auge ausgeschlagen hatte. Aber nun wirkte der Mann wie eine von Norman Rockwell gezeichnete Karikatur eines Tierfreunds, mehr noch, eigentlich wirkte er wie der Weihnachtsmann in der strahlenden Variante. Paus- und rotbäckig und liebenswürdig lächelnd bückte er sich über meine Mutti und überreichte ihr das Fleisch. Die wiederum schien sich von ihrem garstigen Schicksal derart erholt zu haben, als hätte sie eine mehrjährige Reha hinter sich. Ihr getigertes Fell funkelte augenblendend in all der Helligkeit, und ihre grünen Augen waren von innen beleuchtete Edelsteine. Schnell kam sie zu uns Kindern geeilt und ließ das saftige Stück vor unsere Pfoten fallen. Meine Geschwister wirkten in dem Minze-Paradies ebenfalls wie runderneuert. Sogar mein geistig minderbemittelter Bruder strahlte, als hätte er bei einem IQ-Test den Rekord gebrochen, ganz zu schweigen von der wiederhergestellten Anmut meiner kunterbunt gefleckten Schwestern. Im Hintergrund führte die Schar der Dudes einen Freudentanz auf, wobei sie ihre verrückten Kapriolen aus dem Brunnenbecken aufführten.

Angesichts der idyllischen Wiedervereinigung flossen mir Tränen des Glücks über die Wangen. Aber durch den Tränenschleier hindurch sah ich noch etwas anderes. Ganz in der Ferne, dort, wo die Lichtflut sich zu einer kaum mehr zu übertreffenden Glorie steigerte, erschien plötzlich eine dunkle Silhouette. Den Umrissen nach zu urteilen war es eine in eine schwarze Pelerine gehüllte, menschliche Gestalt, die einen breitkrempigen Hut trug. Sie stand regungslos so da und beobachtete unser harmonisches Treiben. Und doch strahlte sie unterschwellig etwas Unheilvolles, ja eine gewisse Gefahr aus. Die kleine finstere Gestalt am Horizont des gleißenden Universums schien etwas im Schilde zu führen -

 

»Ja, ja, Versatzstücke aus der Wirklichkeit fanden in grotesker Form in deinen Traum Zugang und halfen dir so den Schrecken zu verarbeiten«, sagte Junior ungeduldig und rückte näher an mich heran. »Typischer Fall von Verdrängung nach einem Schock. Ich glaube, diese Episode können wir überspringen.«

Die Erinnerung an meine hingemeuchelte Familie hatte von mir so stark Besitz ergriffen, daß mir die kuschelige Stimmung von vorhin trotz der Kaminfreuden abhanden gekommen war. Die Eiseskälte von draußen kroch durch die dicken Mauern des Altbaus geradewegs in mein Herz. Auch Sanctas Wärme drang kaum mehr zu mir. Das Bild aus dem Traum, wie sich alle meine Lieben im lichterlohen Nirwana um mich versammelt hatten, schwebte immer noch vor meinem inneren Auge wie ein kitschiges Motiv aus einer dieser wassergefüllten Schneekugeln. Die ersten Tränen stiegen mir in die Augen, doch diesmal nicht vor Glück. Ich wußte, daß sich die grausame Wahrheit um meine Familie nicht in einer Kitschkugel verbarg.

»Erzähl lieber flott weiter, Paps«, drängte Junior. »Was haben diese komischen Dudes schließlich mit dir angestellt?«

Ich wischte mit dem Pfotenrücken die Tränen weg, ohne daß er es mitbekam.

»Sie haben mich zu dem gemacht, der ich heute bin: Francis. Auch wenn es sich bei ihnen um Bekloppte handelte.«

»Und was wurde aus ihnen?«

»Sie wurden alle ermordet. Ohne Ausnahme.«